Sylt sucht den Superstar
Mit zehn Jahren fuhr ich, zusammen mit meiner Großcousine Anne und rückblickend mysteriösen Gestalten einer Kirchenfreizeit, nach Sylt. Wir wohnten in einem dieser Reetdachhäuser, wurden durch Haushaltsarbeit ausgebeutet und schliefen in Betten, die nach Schneewittchen und die Sieben Zwerge ausschauten. Meine Eltern flogen derweil in die USA und mir ist es bis heute ein Rätsel, warum ich lieber zwei Wochen auf Sylt als in Chicago verbringen wollte.
Anne und ich waren geschockt, als wir entdeckten, dass kilometerbreite Quallen im Meer herumpaddelten und uns dadurch jegliches Badevergnügen nahmen. Das Wattenmeer interessierte uns nur peripher, erst recht wegen der grauschwarzen Wurmhaufen und den kleinen Krebsen überall. Das Essen schmeckte grausam und wir warfen heimlich alle Reste in den Müll. Leider verhielten wir uns dabei zu dilettantisch und flogen sofort auf, was in noch mehr proletarischer Arbeit endete. Hätte man mir damals das Kommunistische Manifest vorgelegt, ich wäre wohl glühender Anhänger von Marx geworden.
Um Sylt ein bisschen erträglicher zu machen und den Kapitalismus zu feiern, hatten wir die grandiose Idee, Muscheln zu sammeln und diese an einem eigens gebauten Stand vor unserem Haus zu verkaufen. Zu unserem Nachteil lag das Reetdachhaus an einem kleinen Weg mit schätzungsweise einem Fußgänger pro Jahr; und ganz abgesehen davon mag Muschelverkauf in muschelarmen Gegenden vielleicht ein wirtschaftlicher Renner sein, auf der Insel Sylt hingegen wird man von dem einen genannten Passanten pro Jahr arrogant ausgelacht und geht mit einem Profit von 0 DM nach Hause.
Sylt war also ein einziger Reinfall. Groß war unsere Freude aber, als Gruppenleiter Peter vorschlug, an einem Talentwettbewerb in Westerland teilzunehmen. Weder Anne noch ich spielten ein Instrument oder waren anderweitig mit Ausnahmefähigkeiten gesegnet, was uns natürlich nicht davon abhielt, trotzdem übereifrig zuzustimmen und Richtung Auto zu hüpfen. Zuvor packte ich eine meiner Musikkassetten ein und los ging's.
Das Spektakel fand in einer abgehalfterten Turnhalle statt, die, entgegen meiner Annahmen, zum Bersten gefüllt war. Familien mit Kindern verteilten sich auf dem Linoleum und starrten Richtung Bühne. Am Eingang mussten sich alle, die am Talentwettbewerb teilnehmen wollten, in eine Liste eintragen: Name, Alter und Talent. Anne hatte sich überlegt, allein ein Theaterstück aufzuführen, während ich triumphierend mit meiner Musikkassette wedelte und vorgab, einen individuellen Tanz darstellen zu wollen.
Kurz vor Beginn der Show musste ich hinter die Bühne und mein Tape abgeben. Der Musikleiter vom Fach spulte zur von mir vorgegebenen Stelle und fragte mich mindestens drei Mal, ob ich mir im Klaren darüber sei, ausgerechnet zu "Walking On Sunshine" von Katrina and the Waves, das nicht einmal vollständig aufgenommen war, zu tanzen. Doch ich war fest überzeugt, dass mein Können vom fehlenden Anfang des Stückes ablenken würde und kehrte entspannt zu Anne und den Kirchenfreizeitleuten zurück.
Nach längerem Warten war es soweit, der Vorhang öffnete sich und meine Aufregung überschlug sich fast, als der Star aller Stars die Bühne betrat: Wolfgang Lippert! Erst Wetten Sie, dass... und nun Sylt sucht den Superstar! Ein Riesenschritt in seiner und erst recht in meiner aufkeimenden Karriere! Kurz: Meine Begeisterung kannte keine Grenzen.
Anne war das erste Opfer. Sie betrat die Bühne und war so aufgeregt, dass sie nicht einmal ihr Alter nennen konnte. Ich nickte ihr während ihres holprigen Auftritts immer wieder aufmunternd zu, was zu noch mehr kolossalen Fehltritten führte. Am Ende ihrer Vorstellung wurde gemessen, wie lange das Publikum klatschte, um anschließend feststellen zu können, wer der grösste Superstar wird. Anne wurde es schon mal nicht - das Publikum klatschte mitleidig zehn Sekunden und konzentrierte sich dann auf Gastgeber Herr Lippert.
Unendlich schlimme Auftritte später betrat ich die Bühne. Wolfgang Lippert fragte nach meinem Namen, meinem Alter und woher ich komme. Ich strahlte ihn an, antwortete wie aus der Pistole geschossen und grinste immer wieder zum Musikleiter vom Fach, um anzudeuten, dass jetzt meine Kassette zum Einsatz kommen sollte. Kurz darauf hatte ich die Bühne für mich, die Musik setzte mitten im Lied ein und ich begann, über die Bühne zu springen, tänzerische Bewegungen zu machen und altes Wissen aus einem halben Jahr Ballett von 1986 anzuwenden. Ich vergaß alle Menschen um mich herum und tanzte so, wie man eben tanzt mit zehn Jahren zu Katrina and the Waves: Völlig albern. Es war mein Glück, dass zu jener Zeit noch keine Videokameras verbreitet waren.
Zum Abschluss meines Darbietung sank ich schwanenhaft zu Boden und wurde, zu meiner Begeisterung, mit stürmischem Applaus belohnt. Wolfgang kehrte zurück auf die Bühne und fragte, woher ich diese "tollen" Bewegungen gelernt hätte, worauf ich keine Antwort wusste. Das Publikum klatschte und klatschte und ich sonnte mich in meinem Erfolg als neuer Stern am Sylter Tanzhimmel. Ich verbeugte mich mehrmals und winkte hysterisch zu Anne, die sich mittlerweile von ihrem Auftritt erholt hatte und erfreut johlte.
Nach mir folgte ein letzter Auftritt: Ein dicker Junge spielte Klarinette, während ihn sein oberlippenbärtiger Vater auf dem Klavier begleitete. Der anschließende Applaus war tosend und erschien unendlich. Ich war geschockt. Sollte etwa diese manipulierte, da nicht allein aufgeführte, Vorstellung meinen Tanz überbieten? Eine Klarinette, gespielt von einer Wurst?
Es kam, wie es kommen musste: Wolfgang Lippert überreichte die Siegestrophäe an den Jungen und seinen Vater (einen Früchtekorb), während ich, abgeschlagen auf Platz 2, nur eine Frisbeescheibe mit Syltaufkleber bekam. Die Kirchengruppe gratulierte zu meinem Erfolg und schon am nächsten Tag kehrten Anne und ich zurück ins anonyme Leben an unseren Muschelstand.
Seitdem war ich nie wieder Talent, auf Sylt oder mit Wolfang Lippert in ein Gespräch verwickelt. Aber trotzdem: Das war ein Schuss! Davon wird man noch reden in den spätsten Zeiten! (Schiller)